Neues Urteil des EGMR: deutsche Erbrechtsvorschriften diskriminieren nichteheliche Kinder

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Wer als Kind aus einer nichtehelichen Beziehung stammt und vor dem 01.07.1949 geboren wurde, ist nach geltender Rechtslage hinsichtlich des Nachlasses des Vaters nicht erbberechtigt, wenn der Erbfall vor dem 29.05.2009 eingetreten ist. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Verfahren der Individualbeschwerde zweier Deutscher kürzlich festgestellt, dass diese deutschen Gesetzesbestimmungen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen.

Zur Entwicklung des Erbrechts nichtehelicher Kinder:

Unter der Geltung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) wurde ein nichteheliches Kind rechtlich zunächst als nicht mit seinem Vater verwandt angesehen, rechtliche Verwandtschaft bestand nur mit seiner Mutter. Demnach war ein nichteheliches Kind nach seinem Vater nicht erbberechtigt. Art. 6 Abs. 5 Grundgesetz (GG) bestimmt, dass „den unehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft wie den ehelichen Kindern zu schaffen sind“. Mit dem Inkrafttreten (23.05.1949) des GG war der Gesetzgeber daher verpflichtet, diesen Gesetzgebungsauftrag zu erfüllen.

Eine Verbesserung der erbrechtlichen Rechtsstellung nichtehelicher Kinder erfolgte erst durch das sog. Nichtehelichengesetz (NEhelG) im Jahre 1969 insoweit, als sie nunmehr hinsichtlich des Nachlasses des Vaters Erbberechtigung erlangten (eine rechtlich völlige Gleichstellung -Erbenstellung – im Sinne des o.g. Gesetzgebungsauftrags wurde aber nicht erreicht in den Fällen, in denen der Vater eheliche Kindern und/oder eine Ehefrau hinterließ; dann gab es nur einen auf Zahlung gerichteten Anspruch gegenüber den Erben – sog. Erbersatzanspruch. Diese Unterscheidung wurde erst mit Wirkung ab dem 01.04.1998 abgeschafft). Das galt aber nur für Erbfälle ab Inkrafttreten (01.07.1970) des NEhelG. Außerdem blieb das Erbrecht nach dem Vater ausgeschlossen für nichteheliche Kinder, die vor dem 01.07.1949 geboren waren.

Der Gesetzgeber befasste sich mit dem Erbrecht nichtehelicher Kinder danach erneut, nämlich anlässlich der deutschen Wiedervereinigung, im sog. Ersten Erbrechtsgleichstellungsgesetz, das u.a. regelt, welches Recht (DDR-Recht oder BRD-Recht) auf Erbfälle im Beitrittsgebiet Anwendung findet. Dort ist bestimmt, dass für nichteheliche Kinder, die vor dem Beitritt (03.10.1990) geboren worden sind, die für eheliche Kinder geltenden Erbrechtsvorschriften gelten. Das DDR-Erbrecht traf seit der Neuregelung des Zivilrechts im Jahr 1976 keine Differenzierung zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern. DDR-Erbrecht war anzuwenden auf die Erbfälle von Vätern, die am 02.10.1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der ehemaligen DDR hatten. Die vor dem 03.10.1990 geborenen nichtehelichen Kinder dieser Väter wurden aufgrund des Ersten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes daher rechtlich wie eheliche Kinder behandelt (nämlich unter Anwendung des DDR-Erbrechts), hinsichtlich der sonstigen nichtehelichen Kinder blieb es bei der o.g. Unterscheidung gemäß dem NEhelG.

Eine Verbesserung der erbrechtlichen Rechtsstellung von nichtehelichen Kindern, die vor dem 01.07.1949 geboren sind, wurde später erreicht anlässlich eines Urteils des EGMR vom 29.05.2009 (Az. 3545/04, Sache: Brauer gg. Bundesrepublik Deutschland), der dort entschieden hatte, dass die im NEhelG getroffene erbrechtliche Unterscheidung zwischen nichtehelichen und ehelichen Kindern gegen Art. 8 und Art. 14 EMRK verstößt. Im sog. Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetz vom 12.04.2011 reformierte der deutsche Gesetzgeber das NEhelG in dessen Art. 12 § 10 nunmehr dahingehend, dass für die ab dem 29.05.2009 eingetretenen Erbfälle die o.g. Unterscheidung nicht mehr gilt (d.h. auch die vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kinder den ehelichen Kindern erbrechtlich gleichgestellt sind).

Zum Sachverhalt der Entscheidung:

Beide Beschwerdeführer waren nichteheliche Kinder, die vor dem 01.07.1949 geboren und deren Väter vor dem 29.05.2009 (Stichtag des Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes) verstorben waren.

Bei dem 1943 geborenen Beschwerdeführer zu 1), Rolf Wolter, lag der Fall wie folgt: Sein Vater hatte bereits einige Monat nach seiner die Vaterschaft anerkannt. Zwischen dem Beschwerdeführer zu 1) und dem Vater bestand eine persönliche Beziehung, insbesondere arbeitete der Beschwerdeführer zu 1) im Betrieb des Vaters. Der Beschwerdeführer zu 1) beantragte nach dem Tod des Vaters einen Allein-Erbschein, den er zunächst erhielt. Aufgrund des Erbscheins nahm er den Nachlass im Besitz. Später wurde der Erbschein eingezogen und das Nachlassgericht erteilte einen Erbschein der Halbschwester des Erblassers und Enkeln seiner Mutter. Der Beschwerdeführer zu 1) wandte sich dagegen und beantragte erneut einen Allein-Erbscheinsantrag für sich. Er blieb in allen Instanzen erfolglos.

Bei dem 1940 geborenen Beschwerdeführer zu 2), Jürgen Sarfert, lag der Fall wie folgt: Sein Vater wurde 1949 durch ein Amtsgericht zur Zahlung von Unterhalt an ihn verurteilt. Der Vater bat den Beschwerdeführer zu 2), sich nicht in seine Familie (bestehend aus Ehefrau und Tochter) einzumischen. Vater und Sohn trafen sich lediglich zu vier Anlässen. Der Vater setzte in seinem Testament seine Tochter als Alleinerbin ein. Der Beschwerdeführer zu 2) erhob eine Pflichtteilsklage gestützt auf seinen Ausschluss als Abkömmling des Erblassers, die in allen Instanzen zurückgewiesen wurde.

Beide Beschwerdeführer legten erfolglos Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) unter Berufung auf Art. 14 Abs. 1 GG („Erbrechtsgarantie“) und Art. 6 Abs. 5 GG ein.
Das BVerfG argumentierte mit dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit. Es wertete die von den Beschwerdeführen begehrte zeitliche Rückerstreckung des Erbrechts der vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelicher Kinder für Erbfälle vor dem 29.05.2009 als echte Rückwirkung, die mit dem berechtigten Vertrauensschutz der erbberechtigten Familienangehörigen des Erblassers kollidiere, insbesondere wenn der Nachlass unter diesen bereits auseinandergesetzt worden sei.

Beide Beschwerdeführer machten im Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR geltend, dass der im reformierten NEhelG (Art. 12 § 10) vorgesehene Ausschluss des gesetzlichen Erbrechts für die vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kinder, soweit er Erbfälle vor dem auch 29.05.2009 betrifft, gegen Art. 14 EMRK („Der Genuss der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen […] der Geburt […] zu gewährleisten.“) in Verbindung mit Art. 8 EMRK („Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.“) verstoße.

Die Entscheidung des EGMR:

Der EGMR gab mit Urteil vom 23.03.2017 (Az. 59752/13 und 66277/13; Sache: Wolter und Sarfert gg. Bundesrepublik Deutschland) beiden Individualbeschwerden statt.

Das Gericht sah in dem Ausschluss des Erbrechts der vor dem 01.07.1949 geborenen nichtehelichen Kinder in den vor dem 29.05.2009 eingetretenen Erbfällen durch Art. 12 § 10 NEhelG in der Fassung der Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes einen Verstoß gegen das Verbot der Diskriminierung nach Geburt (Art. 14 EMRK) in Verbindung mit Art. 1 des Zusatzprotokoll Nr. 1 („Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemandem darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es ver¬langt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.“)

Ausgangspunkt für den EGMR ist, dass der Grundsatz der Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder von großer Bedeutung ist und Ausnahmen davon nur bei Argumenten von besonderem Gewicht zulässig sind. Der EGMR respektiert dabei zwar den vom BVerfG ins Feld geführten Gesichtspunkt der Rechtssicherheit, trotzdem führt dies nach seiner Ansicht nicht dazu, dass der Ausschluss des Erbrechts für die vor dem 29.05.2009 liegenden Erbfälle gerechtfertigt sei. Letztlich sind für den EGMR drei Kriterien maßgebend: die Kenntnis der betroffenen Personen, der Status der vom Erbfall betroffenen Rechte und die Fristen für damit im Zusammenhang stehende Klagen.

Nach Auffassung des EGMR spricht in den von ihm entschiedenen o.g. Fällen für berechtigte Interessen der erbberechtigten Verwandten nur der Gesichtspunkt, dass die Tochter des Erblassers eventuell von der Existenz des Beschwerdeführers zu 2) nichts wusste. Alle anderen Kriterien sprächen für den Vorrang der rechtlichen Interessen der Beschwerdeführer: der Beschwerdeführer zu 1) sei dem Erblasser und dessen erbberechtigten Verwandten als möglicher Erbberechtigter bekannt gewesen, er habe sein Erbrecht bereits kurz nach dem Erbfall durch seinen Erbscheinsantrag geltend gemacht und sei sogar zeitweilig in den Besitz des Nachlasses gelangt, während hingegen die erbberechtigten Verwandten des Erblassers zunächst keinen Erbscheinsantrag stellten. Außerdem hätten beide Beschwerdeführer die nach dem deutschen Recht geltenden Fristen für die Geltendmachung ihrer erbrechtlichen Ansprüche eingehalten.

Ausblick:

Die EMRK hat, wie jeder andere völkerrechtliche Vertrag, nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG). Dies ist ständige Rechtsprechung des BVerfG. Daher haben Art. 14 EMRK und Art. 1 des Zusatzprotokoll Nr. 1 keinen Anwendungsvorrang gegenüber Art. 12 § 10 NEhelG in der Fassung der Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetzes. Zwar betont das BVerfG immer wieder ein völkerrechtsfreundliches Verständnis deutscher Gesetze. Für die o.g. Erbrechtsvorschriften hat es aber eine entsprechende korrigierende Auslegung, die zu einer rückwirkenden Erstreckung des Erbrechts aller nichtehelichen Kinder auf die Erbfälle vor dem 29.05.2009 führt, ausdrücklich abgelehnt. Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass der Gesetzgeber sich anlässlich der Entscheidung des EGMR vom 23.03.2017 –freiwillig- dazu entschließt, eine entsprechende Rückwirkung im Wege einer entsprechenden Neuregelung anzuordnen, wie er es in Grenzen bereits mit dem Zweiten Erbrechtsgleichstellungsgesetz anlässlich der Entscheidung des EGMR vom 29.05.2009 (Az. 3545/04, Sache: Brauer gg. Bundesrepublik Deutschland) getan hat. Dies bleibt abzuwarten.

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